Vier Kurzgeschichten

Anna Stella Poli Vier Kurzgeschichten German Translation by translator Florian Busch

Read the German translation by Florian Busch of the short stories ‘Je fait des tour’, ‘Leonor’, ‘Radici’, and ‘Sere’, originally written in Italian by writer Anna Stella Poli.

Poli explores identity, sexuality, and change in a lyrically broken style.

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Je fait des tour

Sie blickt mich an, als ich in den halbleeren Bus einsteige und mich neben sie setze. 
Wie ein kleines Tier wirkt sie, wobei ich nicht auf Anhieb sagen könnte, welches. 
Mit ihren kleinen, tiefliegenden Augen, den seltsamen Furchen in einem jungen Gesicht und ihren kurzen Haaren ist sie nicht besonders auffallend. Eine kleine Maus, ein Wiesel, ein dunkles Hermelin. Sie sieht mich verstohlen an und als sie mich anspricht, steigt mir der Geruch nach ungewaschenen Kleidern in die Nase.
Ob ich Internet habe. Es ist neun Uhr abends, ich bin auf dem Heimweg und ich habe Internet. Sie spricht Französisch und leise, flüstert beinahe. Ich spreche auch Französisch, verstecke mich aber hinter meinem ausländischen Akzent und antworte, dass ich sie nicht verstehe.
Sie glaubt mir nicht, zurecht, und ich frage mich, woher mein Misstrauen kommt. Vielleicht ist es ihr Geruch oder die kleinen Augen, die sich so schnell bewegen.
Sie fragt vorsichtig, ob sie eine Nachricht verschicken darf. Ich schaue sie an.
Es bläst ein sibirischer Wind durch Paris. Ihre Knöchel sind nackt, sie trägt weiße Sneakers und geblümte Hosen, ihr muss kalt sein. Unter meinen Jeans trage ich Wollstrumpfhosen, dazu feste Schuhe. Zwei Pullover. Ich öffne meine Tasche, nehme das Handy und sage ihr, sie soll die Nachricht schreiben. Ich beobachte sie, dass sie mein Handy hat, macht mich unruhig.
Was für ein armseliger Instinkt, sage ich mir. Das Handy ist kaum etwas wert.
Das italienische Menü bereitet ihr Schwierigkeiten. Als ich ihr sage, dass ich aus Italien bin, sagt sie sais pas que j’ai fait, worauf ich, ohne aufzublicken, c’est bon antworte. Ich nehme das Handy und stecke es in meine Tasche.
Ihr ist kalt und sie blickt mich an. Noch kam keine Antwort. Sie drückt den Halteknopf und bleibt sitzen. Als sie kurze Zeit später doch aussteigt, sagt sie weder Danke noch verabschiedet sie sich.
Drei Haltestellen später steige auch ich aus und kaufe eine Quiche für morgen. Daheim angekommen schalte ich das Radio ein und öffne eine Flasche Weißwein.
Beim Kochen fällt sie mir wieder ein.
Die Nachricht habe ich nicht gelesen, ich wollte nicht indiskret erscheinen. Eigentlich bin ich nicht mal sonderlich neugierig, schaue aber trotzdem nach. Die Nachricht wurde noch nicht zugestellt: Cest diyhia stp laisse moi venir car depuis tt alheur je fait des tour de bus et ji froid jai pas envie de dormir dehors desole si je tai manquer de respect a ts pote jai frois et je fait des tours depuis.
Ich schicke die Nachricht noch einmal ab, ohne Erfolg. Vielleicht ist der Kontakt gesperrt, vielleicht fehlt auch eine Vorwahl oder eine Null. Oder irgendetwas anderes. Ich probiere es mehrmals, aber es gelingt mir nicht.

(Hier ist Diyhia. Bitte lass mich zu dir kommen. Ich fahre mit dem Bus herum und mir ist kalt. Ich will nicht draußen schlafen. Es tut mir leid, wenn ich respektlos gegenüber dir oder deinen Freunden war.)

Leonor

Leonor war der majestätische Beginn und das schnelle Ende der Zweifel.
Wenn sie balotta sagte, war das L leicht wie in Kamelien. Sie war jung, aß rohe Flusskrebse und hatte für Fragen nach der Zukunft nur Verachtung übrig. Ihre Haare waren kurz geschnitten, wie manchmal bei Kindern in den Ferienlagern. Und wenn sie von den anderen am runden Tisch gedemütigt wurde, weinte sie nicht, stotterte aber für die nächsten drei Minuten.
Sie studierte in den Niederlanden und erzählte mir, dass sie einmal einen Zug angehalten hat, um einem Jungen mit Seitenscheitel zu folgen, dem sie zwei Pain au chocolate bringen und sie zusammen mit ihm essen wollte. Er nahm das Pain au chocolate, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zu seinem Platz. Zwischen ihr und den betrübten Blicken der Pendler, die alle ihre Hoffnung teilten, schlossen sich die Türen des Zuges.
Sie erzählte die Geschichte mit wedelnden Armen und lustigen Stimmen, während wir zusammen Bier an der Kaimauer tranken. Aber all das hat keine große Bedeutung, denn an diesem Tag fuhren wir in der Mittagspause ans Meer. Kurz hinter dem Kastell, über einen abschüssigen Schotterweg, breitete es sich vor einem aus. Leonor trug keinen Badeanzug unter ihrer Kleidung, ich hatte mir schon das Unterhemd ausgezogen. Neben ihr fühlte ich mich immer plump. Sie war groß, muskulös, gerade und hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Ich bot an, ihr ein Handtuch zu halten, doch da war sie schon nackt. Ihre zimtfarbenen Brustwarzen waren groß und ihre Muschi eindrucksvoll ungepflegt, mit Härchen wie rankendes Efeu und dunkel wie die Sorgen. Eine Sekunde später hatte sie schon einen orangen Bikini angezogen, den sie mit geschickten Fingern zusammenband. Ich blieb still als wir entschieden, von den Felsen ins Meer zu springen, als wir schwammen und uns treiben ließen. Sie erzählte mir von den nächsten Zügen, die sie nehmen wollte, von einer bevorstehenden Abfahrt, von unserem nächsten Wiedersehen, wann auch immer das sein würde.

Wurzeln

Es waren 12 Umzüge, sie hatte sie gezählt. Die meisten davon fröhlich, der letzte etwas stürmisch. 
Wie der Ball in den lila Flipper-Maschinen war auch sie zum Ausgangspunkt zurückgekehrt.
Das Bing Bing, wenn es einen Bonus gibt und die Lichter in den runden Halterungen tanzen, klingelte noch in ihren Ohren.
Sie war noch keine 30 Jahre alt.
Sie war auf der Piazza, als er sie anrief um zu fragen, wo die Piazza sei oder vielleicht auch, wo auf der Piazza sie sei. Für sechs Sekunden war sie unsicher, auf welcher Straße sie war, bis sie sich zurechtfand und er sagte, er würde gleich ankommen.
Überall waren Menschen, um sie herum auch ihre Freunde. Sie standen in Gruppen und unterhielten sich.
Er schien ihr entspannter, jünger und sogar etwas gebräunter. Das muss mein Kopf sein, sagte sie sich, als sie ihre Jacke enger um sich zog und ihre Hände in die Ärmel steckte. Die Luft war feucht an diesem Abend, der Nebel hing in den Straßen fest. 
Sie spürten ein seltsames Kribbeln. Er erzählte von einem Festival am Flussufer, bei dem er einen Journalisten interviewt hatte und sie fragte sich, wo sie vor zwei Jahren gewesen war. Sie sagte ihm noch nicht einmal, dass sie gerne von ihm gehört hätte, das schien ihr selbstverständlich.
Ihr Fuß war bleischwer, als sie ihn bewegen wollte.
Er fragte sie nach ihrer Arbeit und sie erzählte, dass man ihr einen Job in Toronto angeboten hatte. Toronto, als er das Wort wiederholte, schien ihr, als spreche er von etwas traurigem, weit entfernt und schrecklich schon beim bloßen Gedanken daran. 
Eine Freundin, die bis zur Konferenz über Geopolitik am nächsten Tag durchmachen wollte, fragte, ob sie etwas in der nächsten Bar trinken wollten. Sie sagte sofort ja, sie wollte mit ihm trinken und ihr war kalt. Bis zur Bar waren es vielleicht 15 Schritte quer über die Piazza. Sie versuchte es ein Mal, ein zweites Mal.
Mit Panik in den Augen schaute sie ihn an und sagte langsam und verlegen, dass sie sich nicht bewegen könne. 
Wie bitte?
Ich kann die Füße nicht heben, sie bewegen sich nicht.
Er war ein pragmatischer Mensch, bückte sich und schaute ihre Füße an. Heb sie an, sagte er zu ihr. Ich versuche es doch, ich versuche es die ganze Zeit. Ihr Stiefel hob sich wenige Zentimeter. Wurzeln, sagte er.
Was laberst du für einen Scheiß?
Du hast Wurzeln geschlagen, antwortete er, als er den Schatten zwischen ihrer Sohle und dem Boden betrachtete. 
Sie schauten sich perplex an, als sie aufstand. 
Es ist deine Schuld, sagte sie schnell. Toronto ist schön, aber ich will da nicht mehr hin. Und es gibt hier nichts, was man damit vergleichen könnte. Nur du, der mir Lust machst auf…
Wie in den Heftchen für Teenager.
Lust worauf, fragte er.
Zu bleiben, Wurzeln zu schlagen, aber doch nicht so. Langsam, vorsichtig und geduldig. Seit ich an dich denke, kann ich nicht mit dir sprechen. Ich weiß nicht, woher diese Blockade kommt, vielleicht will ich keinen Fehler machen. Wegen dir habe ich Angst davor, etwas falsch zu machen, und im schlimmsten Fall nicht einfach von vorne anzufangen zu können. Auf anderen Wegen, mit anderen Reibungen und anderen Lichtern.
Ihre Geopolitik-Freundin hörte auf zu reden. Sie drehte etwas in ihrer Hand und fixierte es mit ihrem Blick. Er sagte, eigentlich wolle er nach Hause gehen.
Du willst nach Hause?
Ja, entschuldige bitte, ich bin müde.
Sie gaben sich einen Kuss auf die Wange, er ging zu seinem Auto.
Sie blieb für ein Bier, ihre Füße gehorchten ihr wieder.

Sere

„I should wear my tiger pants,
I should have an affair”.

Mein Vater sprach sechs Monate nicht mit mir. Ich sprach sechs Tage nicht mit Martina.
Mit etwas mehr Gefühl für das richtige Timing, sagte ich mir, hätte all das verhindert werden können. Das war eine Lüge. Wenn dir der Bremshebel in der Hand zerbricht, kannst du den Knall nicht verhindern. Aber das war eigentlich kein passender Vergleich. Mein Vater sprach sechs Monate lang nicht mit mir, weil ich ihm sagte, dass ich Martina liebe. Er warf meine Sachen aus dem Fenster, wie wenn eine strenge Mutter ihrem unordentlichen Kind droht oder wie in den russischen Dramen.
Ich sammelte sie wieder ein, stopfte sie in einen maringrünen Sack und machte mich auf den Weg zu Martina.
Während ich ging, versuchte ich sie mir vorzustellen, wie ich unterwegs in den Straßen. Wir hatten den Tag verabredet.
Aber es gelang mir nicht. Ich dachte immer, dass ihre Mutter mit all ihren Sommersprossen und Yogakursen schon verstanden oder es immer geahnt hätte.
Ohne ihr Bescheid zu geben, nahm ich einen Zug, dann einen Bus. Ich stellte mir ihre Wimpern vor, wenn sie die Augen aufriss, ihre Art zu erröten, wenn sie von etwas überrascht wurde.
Als ich ankam, ging die Sonne bereits unter. Niemand war auf der Straße unterwegs, auch nicht Martina.
Ich klingelte.
Ihre Mutter lächelte, etwas in ihren Augen blickte mich fragend an. Sie rief nach Martina.
Als ich sie sah, errötete sie nicht. Es schien, als wüsste sie nicht, was sie sagen solle.
Sie brauchte ewig, bis sie endlich verstand, und hatte mich bereits am Arm in ihr Zimmer gezogen.
Du hast nichts gesagt, sagte ich, ohne wirklich zu fragen.
Ihr Blick senkte sich.
Mein Vater hat mich rausgeworfen und du hast nichts gesagt.
Ich kann das nicht, jammerte sie. Sere, ich kann das nicht.
Ich verabschiedete mich von ihrer Mutter und ging auf die Straße. Ich schlief im Hotel neben dem Bahnhof, in dem wir einen Nachmittag im April verbrachten und uns geliebt haben.

Wir hatten zusammen in São Paulo gelebt und uns in den Straßen von Porto geküsst. Ich gab Parma die Schuld, aber vielleicht war auch das falsch.
Ohne wirklich zu wissen, was ich jetzt machen sollte, rief ich Costanza an. Komm zu mir, sagte sie, ich richte die Couch für dich her.
Im TGV nach Paris weinte ich zusammengekauert und so leise wie ich konnte.

Florian Busch (tr.)

Florian Busch studied Philosophy in Würzburg, Berlin and Rome. While working as an editor for a Berlin based research institute he decided against a PhD and switched career to now make his living as a Copywriter and Web Developer. Nonetheless he still enjoys reading books on political theory and translates articles for the german edition of Jacobin Magazin. Translating fiction for Longitūdinēs for him was a first. He enjoys long walks with friends and Kyokushin Karate.

Anna Stella Poli

Anna Stella Poli (in Latin 'the pole star': 'strange omen for an often disoriented girl', she says), earned her PhD in Contemporary Italian Literature and Philology from the University of Genova. Her book of short tales, Cucchiai. Un'antologia di fallimenti, written with Guido Casamichiela was published in 2019. She is profoundly happy when she dives into the water and when she cycles back home on warm summertime nights. When she is horribly sad, everything gets more complicated.

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